Woher kommt eine Lesestörung?

Wann und warum eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung entsteht, ist nur schwer zu beantworten. Es gibt verschiedene Risikofaktoren, zu denen eine familiäre Häufung, Sprachauffälligkeiten im Vorschulalter und Schwierigkeiten bei der Buchstaben-Laut-Zuordnung zählen.

Genauso heterogen wie das Störungsbild selbst, sind auch die vermuteten Gründe und Ursachen hinter der Lesestörung (LS). Heute geht man davon aus, dass eine LS von verschiedenen Einflussfaktoren verursacht wird und nicht nur von einem Einzelnen. Im Folgenden werden die ausschlaggebenden Erkenntnisse zur Ursachenklärung aus den letzten Jahren beschrieben.

Genetische Disposition

Untersuchungen an einer Vielzahl von Familien zeigten, dass die Lese- und/oder Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt. Ausgehend von einem Elternteil mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung liegt das Risiko für ein Kind, selbst eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu entwickeln, bei 40–50%. Das Risiko steigt, wenn beide Elternteile betroffen sind. Der Vergleich von eineiigen Zwillingen, die eine identische genetische Ausstattung haben, mit zweieiigen Zwillingen, die eine genetische Ausstattung vergleichbar der von Geschwistern aufweisen, ermöglicht die Abschätzung der Erblichkeit der Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Der genetische Anteil an der Lese- und Rechtschreibfähigkeit liegt zwischen 40% und 80%.

Anhand von molekulargenetischen Methoden wurden bisher einige Regionen u.a. auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15, 18 und X beschrieben, in denen sich genetische Informationen finden, die in einem Zusammenhang mit der beeinträchtigten Lese- und/oder Rechtschreibfähigkeit stehen. Als bisher am besten untersucht und bestätigt gelten u.a. die Kandidatengene auf den Chromosomen 6 und 15, die das Wachstum und die Verknüpfung von Nervenzellen während der vorgeburtlichen Hirnentwicklung beeinflussen. Ein Zusammenhang dieser (und anderer) Gene mit der Entwicklung von Lesefähigkeit ist wahrscheinlich. In den letzten Jahren wurden Zusammenhänge zwischen bestimmten Variationen auf einzelnen Kandidatengenen und strukturellen Unterschieden in bestimmten Hirnregionen gefunden. Es sind jedoch noch viele weitere Studien notwendig, die Genetik, bildgebende Verfahren und das Erheben der Leseleistungen verbinden, um diese möglichen Zusammenhänge besser abzusichern und zu verstehen.

Es ist nicht zu erwarten, dass genetische Dispositionen durch einzelne Genvarianten im Sinne eines Alles-oder-Nichts-Prinzips bestimmen, ob eine Person eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung entwickelt. Wahrscheinlich regulieren die Gene durch Beeinflussung der Gehirnentwicklung Hirnfunktionen, wie z.B. die Sprachwahrnehmung, die eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb darstellt. Insgesamt erscheint ein Zusammenwirken von genetischen Faktoren und Umweltfaktoren am wahrscheinlichsten.

Veränderte Gehirnfunktionen und individuelle kognitive Faktoren

Eine ausreichende Leseflüssigkeit benötigt die Ausbildung eines funktionsfähigen Gehirnsystems, das die Verarbeitung unterschiedlicher, für die Schriftsprache relevante, Informationen integriert. Studien mit strukturellen bildgebenden Verfahren (z.B. MRT) konnten in den letzten Jahren funktionelle Veränderungen vor allem in der linken Gehirnhälfte bei Betroffenen der Lese- und/oder Rechtschreibstörung feststellen. Es wird vermutet, dass die veränderten Hirnfunktionen in einer Kausalverbindung zu der verminderten visuellen und auditiven Reizwahrnehmung und -verarbeitung, sowie weiteren normwidrigen kognitiven Fähigkeiten stehen, die bei Betroffenen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung vermehrt beobachtet wurden.

Sprachwahrnehmung und Phonologische Bewusstheit

Die Sprachwahrnehmung stellt eine sehr komplexe Fähigkeit dar und ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Schriftspracherwerb. Für die Zuordnung von gehörten Lauten zu Buchstaben, die verschriftlicht werden müssen, ist eine gut ausgebildete Sprachwahrnehmung und -unterscheidungsfähigkeit wichtig. Diese ist auch eine Voraussetzung für die, sich in den vorschulischen Jahren entwickelnde, Lautbewusstheit. Unter dem Begriff Lautbewusstheit (auch phonologische Bewusstheit genannt) werden verschiedene Fähigkeiten zur Lautwahrnehmung und -verarbeitung zusammengefasst, wie z.B. Laute erkennen, Laute in Wörter streichen und Laute zählen. Die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit (PB) für den Schriftspracherwerb ist gut belegt.

Ferner zählen einzelne Bereiche der PB zu den Prädiktoren, also den Faktoren, die erlauben, ein Risiko für die Entstehung einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung vorherzusagen. Interessanterweise ist der Einfluss der PB auf die Entwicklung der Rechtschreibung höher als auf die der Lesefähigkeit. Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (MRT), die die Aktivität des Gehirns bei Aufgaben, z.B.  zur Lautwahrnehmung und -unterscheidung, darstellt, zeigen bei Kindern mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung bei der Sprachwahrnehmung und -verarbeitung deutlich verzögerte und geringere Aktivitätsmuster. Da mehrere Gehirnareale beteiligt sind, spricht man von einem neuronalen Netzwerk, das beim Lesen aktiviert wird und das an unterschiedlichen Stellen bei Kindern mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung verändert ist.

Auditive Wahrnehmung

Sehr kontrovers wird immer wieder die Frage diskutiert, inwieweit das Gehirn von Kindern und Erwachsenen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung in der Lage ist, schnell aufeinander folgende akustische Reize, z.B. einfache Töne unterschiedlicher Frequenzen oder sich ähnelnde Sprechsilben, zu unterscheiden. Die Befunde sind sehr widersprüchlich und sehr von der Untersuchungsmethodik abhängig. Um unklare Auffälligkeiten in der Sprachverarbeitung und phonologischen Bewusstheit zu erklären, wurde das Konstrukt der zentralen auditiven Wahrnehmungsstörung entwickelt. Die meisten Studien können die Hypothese einer zentralen auditiven Wahrnehmungsstörung bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung jedoch nicht unterstützen. Trotzdem werden damit Ansätze zur Förderung abgeleitet. Diese Therapien sollten ohne ausreichende Wirksamkeitsnachweise nicht durchgeführt werden.

Wortwahrnehmung und -verarbeitung

Die Störung der Verarbeitung von Buchstaben und Wörtern bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Mit Hilfe der Bildgebung (funktionelle Magnetresonanztomographie) und der Neurophysiologie (Elektroenzephalographie) konnte gezeigt werden, dass eine bestimmte Region der linken Gehirnhälfte, die sogenannte visuelle Wortformarea, bei Kindern mit einer LRS während des Lesens deutlich geringer aktiviert ist. Hingegen zeigten sich keine Aktivitätsunterschiede bei der Unterscheidung von visuellem Material, das keine Wortbedeutung hat. Bei der Untersuchung des Wortverstehens zeigten sich bei Kindern mit einer Lesestörung ebenfalls deutlich veränderte Aktivierungsunterschiede in der linken Gehirnhälfte, allerdings in einer anderen Region, dem sogenannten Schläfenlappen.

Ein zentraler Lernprozess für das Lesen-Lernen ist die Zuordnung der Buchstaben zu den Lauten. Dieser Prozess lässt sich mit neurobiologischen Methoden gut abbilden. Bei Kindern mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung sieht man meist sehr ausgeprägt, dass die Gehirnaktivität beim Lernen der Buchstabe-Laut-Zuordnung deutlich verringert und verzögert ist. Möglicherweise ist der Leseprozess deshalb so verlangsamt, weil diese Verknüpfungsprozesse im Gehirn gestört sind.

Umweltfaktoren

Wie das sprachliche, familiäre und sozioökonomische Umfeld des Kindes oder die Art des Schulunterrichts an der Entstehung der Lese- und/oder Rechtschreibstörung beteiligt sind, ist bisher nur unzureichend erforscht. Allerdings gibt es Belege, dass sich das familiäre Leseumfeld über die Sprachkompetenzen der Kinder, ihre Kenntnisse in Bezug auf die Schrift und ihre Lesemotivation auf die schriftsprachlichen Leistungen auswirkt. So können zum Beispiel unzureichende wirtschaftliche Verhältnisse einen Risikofaktor einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung darstellen, häusliche Unterstützungsmöglichkeiten präventiv wirken und ein guter Anfangsunterricht die Anzahl der Kinder mit unterdurchschnittlichen Leistungen verringern.

Zusammenfassend wird deutlich, dass es nicht eine Ursache der Lese- und Rechtschreibstörung gibt. Vermutlich ist auf der Basis einer genetischen Disposition das Risiko, eine LRS zu entwickeln, erhöht. Diese genetische Veranlagung kann unterschiedlich sein, abhängig von den jeweiligen genetischen Veränderungen. Diese wiederum beeinflussen vermutlich einzelne neurobiologische Prozesse, wie z. B. die Wortverarbeitung, die Buchstaben-Laut-Verbindung und/oder den Gedächtnisabruf von phonologischer Information im Gehirn.

Zu diesen biologischen Faktoren kommen aber auch Umweltfaktoren, wie z.B. Lernmöglichkeiten und Lernförderung. Wächst ein Kind mit den gerade beschriebenen Risikofaktoren in einer Umgebung auf, in der eine geringe Sprach- und Lernförderung vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit, eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu entwickeln erhöht. Schulfaktoren, wie z.B. ein belastendes Klassenklima, fehlende Förderung und Anerkennung der Lernschwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben durch die Schule können Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten ebenfalls verstärken. Zudem können sich weitere psychische Belastungsfaktoren wie z.B. eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung auf den Schweregrad der Lernstörung auswirken.

>> Wie wirkt sich eine Lesestörung auf Fremdsprachen aus?

>> Zurück zu Übersicht: Lesestörung