Welche Störungen treten häufig gemeinsam auf?

Oft tritt eine Lernstörung nicht allein auf. Zusätzlich können weitere Störungen, Belastungen und Erkrankungen auftreten, die den Verlauf der Lernstörung nachhaltig beeinflussen. Diese gleichzeitig auftretenden Störungen nennt man komorbide Störungen.

Eine Lesestörung kann z.B. auch mit einer Rechtschreibstörung und/oder einer Rechenstörung einhergehen. Ging man früher davon aus, dass Kinder, die Leseprobleme hatten, gut im Rechnen sind, so weiß man heute, dass diese Annahme nicht zutrifft. Auch wenn es einzelne Kinder gibt, die trotz Lese- und/oder Rechtschreibstörung über hervorragende Rechenfähigkeiten verfügen, so zeigen aktuelle Studien, dass insgesamt die Rechenfähigkeiten unter dem Durchschnitt liegen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass gleich eine Rechenstörung vorliegt. Trotzdem ist die Anzahl der Kinder, die sowohl eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung und eine Rechenstörung haben, erhöht. Aktuelle Untersuchungen unterstützen die Notwendigkeit, bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung auch nach dem Vorliegen einer Rechenstörung zu schauen: bei 12 – 17% der Kinder mit einer Lesestörung oder Rechtschreibstörung liegt auch eine Rechenstörung vor.

Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Lernstörungen treten Psychische Belastungen vermehrt auf. Es wird vermutet, dass das Auftreten von Ängsten, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen sowie Verhaltensauffälligkeiten durch wiederholte Misserfolgserlebnisse in der Schule verstärkt werden.

Die nachfolgende Abbildung zeigt die Häufigkeiten der komorbiden Störungen, die bei einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung auftreten (Angaben in Prozent).

Lese-Rechtschreibstörung

Quelle: Ratgeber Lese-/Rechtschreibstörung von Gerd Schulte-Körne, Katharina Galuschka

 

Tritt eine psychische Störung, wie z.B. eine Angststörung, gemeinsam mit einer Lernstörung auf, so ist dies nicht nur für die Diagnostik wichtig, sondern auch für die Behandlungsplanung. Ängste sind zunächst nichts krankhaftes, da sie zur Entwicklung des Kindes dazu gehören. Entstehen aber Ängste vor Situationen, die normalerweise keine Ängste auslösen sollten und erleben die Kinder diese Ängste als nicht mehr kontrollierbar, ist eine diagnostische Abklärung dringend zu empfehlen. Es könnte z.B. eine Angststörung vorliegen, wenn die Kinder bei dem Gedanken an eine Prüfung in Deutsch oder Mathematik bereits Herzrasen oder Atemnot bekommen, sowie wenn sie feuchte Hände bekommen, beim Gedanken in der Klasse etwas vortragen zu müssen.
Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die auch als Hyperkinetische Störung bezeichnet wird, sind häufig sehr unruhig, impulsiv und haben eine geringere Aufmerksamkeitspanne. Meist tritt die motorische Unruhe und Impulsivität bereits im Kindergartenalter auf. Eine Untersuchung, ob ein ADHS vorliegt, wird jedoch meist erst mit Schulbeginn durchgeführt, da erst der strengere schulische Rahmen mit den längeren Phasen der Aufmerksamkeitsanforderungen für die Kinder mit einem ADHS eine große Herausforderung darstellt. Das gemeinsame Auftreten von ADHS und Lernstörungen bedeutet jedoch, dass die Kinder sich zusätzlich zu den Lernstörungen schlecht konzentrieren können, häufig Unterrichtsinhalte nicht mitbekommen, längere Übungsphasen kaum aushalten und sich beim Lernen schlecht strukturieren können.
Depressive Phasen bei Kindern mit einer Lernstörung werden eher übersehen, da sich der Rückzug meist langsam vollzieht und die Traurigkeit, die länger als einen Tag anhält, nicht so offensichtlich ist. Anzeichen einer Depression bei Kindern können z.B. Konzentrationsstörungen, Rückzug, vermindertes Selbstvertrauen, Kopf- oder Bauch­schmerzen, aber auch Unruhe oder aggressives Verhalten sein. Bei Jugendlichen stehen, ähnlich wie bei Erwachsenen, meist eine anhaltende traurige Verstimmung, der Verlust von Freude und Interessen sowie Antriebsmangel im Vordergrund. Nicht selten berichten die Kinder und Jugendlichen auch von lebensmüden Gedanken.
Störungen des Sozialverhaltens können sich auf verschiedene Weisen äußern, beispielweise als Zurückgezogenheit, Verweigerungshaltungen, Angst, Unruhe, Schlafstörung und Essstörung. Verhaltensstörungen entstehen meist in der Kindheit und können unterschiedliche Ursachen in der individuellen und sozialen Entwicklung, aber auch in Krankheiten und dauerhaft belastenden Lebenssituationen haben. Beispielsweise soziale Verwahrlosung, mangelnde oder fehlerhafte Erziehung bzw. soziale Entwicklung, psychische Traumata (z.B. Sexueller Missbrauch, PTBS), hirnorganische Prozesse (z.B. ADHS), Entwicklungsphasen (z.B. im Rahmen der Pubertät oder Trotzphase), Erfolgsdruck, Misserfolge, fehlende Anerkennung, Mobbing.

Die Diagnostik der psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ist komplex und bedarf der besonderen Fachkunde. Liegt der Verdacht oder eine psychische Störung vor, so ist neben den Lernstörungen auch die komorbide Störung zu behandeln. Hierzu sollte sich die Behandlung nach den Behandlungsleitlinien richten, die im Netz auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und der AWMF und zu finden sind.

 

Neben den psychischen Störungen, die sowohl bereits vor oder als Folge der Lernstörung(en) auftreten können, werden bei betroffenen Kindern häufig emotionale Belastungen beobachtet, die jedoch nicht so ausgeprägt sind, als dass man von einer Störung spricht. Diese Belastungen sind jedoch Frühwarnzeichen und sollten sehr ernst genommen werden. Die nachfolgende Übersicht nennt häufige Symptome und Beschwerden von Kindern, die Anlass sein sollten, diese im Zusammenhang mit Lernstörungen genauer zu untersuchen.

Symptome und Beschwerden von Kindern mit einer Lernstörung, die Anlass zu einer fachärztlichen Diagnostik sein sollten
Kind berichtet wiederholt, morgens vor der Schule über erhebliche Kopf- und Bauchschmerzen. Beschwerden treten verstärkt an Tagen auf, an denen Deutsch/Mathematik unterrichtet wird oder Tests in diesen Fächern anstehen. Meist keine Symptomatik während der Schulferien.
Wiederholt nächtliches Erwachen mit Ängsten, das zuvor nicht bestand und nur in Schulzeiten auftritt.
Bericht des Kindes, dass Schule keinen Spaß mache, verbunden mit der zunehmenden Verweigerung, dorthin zu gehen.
Bericht von Angst vor der Schule.
Nachlassen von Freizeitaktivitäten die in der Vergangenheit gerne ausgeführt wurden, weniger Antrieb, häufigeres Weinen.
Unruhiges, ungesteuertes Verhalten, motorische Unruhe, Kind kann kaum stillsitzen in Schulsituationen, unabhängig vom Unterrichtsfach.
Kind berichtet von Selbstzweifel, hat wenig Zuversicht, selbst etwas zu verändern, hat Angst vor der Zukunft.
Es kommen weniger Freunde zu Besuch, Kind wird nicht mehr zu Geburtstagen eingeladen.

 

Liegen Berichte des Kindes vor oder beobachten Eltern oder Lehrkräfte Veränderungen bei einem Kind, wie sie oben beschrieben sind, sollten diese Anzeichen ernst genommen werden. Diese müssen nicht zwingend Folge der Lernstörung(en) sein, sondern können auch im Rahmen einer komorbiden Störung auftreten. In jedem Fall ist die Diagnostik wichtig um festzustellen, was die Gründe dieser Symptome sind und wie man dem Kind und seiner Familie am besten helfen kann.

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