Wie wird eine Rechenstörung festgestellt?

Die Diagnostik einer Rechenstörung ist eine interdisziplinäre Aufgabe und schließt eine klinische, physische und testpsychologische Untersuchung sowie die Erhebung klinischer, qualitativer und psychometrischer Informationen mit ein.

Die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Rechenstörung bzw. Dyskalkulie enthält Empfehlungen zu Diagnostik und Behandlung von Rechenstörung. Die Leitlinie bietet eine Grundlage für eine angemessene Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Rechenstörung durch wissenschaftlich begründete, angemessene, qualitätsgesicherte Verfahren der Diagnostik und Therapie. Sie kann auch von Angehörigen, sowie den betroffenen Kindern- und Jugendlichen selbst als Informationsgrundlage verwendet werden.

 

Diagnostik laut ICD 10

Sollten Eltern bei ihrem Kind eine Rechenstörung vermuten oder werden sie seitens der Schule darauf angesprochen, so sollte sehr bald eine Rechenstörungsdiagnostik durchgeführt werden. Damit wird geprüft, ob eine Rechenstörung gemäß der ICD-10 vorliegt. Eine Rechenstörung darf von drei Berufsgruppen diagnostiziert werden:

  1. Ärzte für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und Psychotherapie
  2. Approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
  3. Ärzte oder approbierte psychologische Psychotherapeuten, die nachweislich besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben

Eltern benötigen für diese Fachärzte bzw. – therapeuten jedoch eine Überweisung, die sie vom behandelnden Kinderarzt ausstellen lassen können.

 

Bausteine der Diagnostik und empfehlenswerte diagnostische Verfahren

  1. Diagnostisches Gespräch mit Eltern, Kind und teilweise den relevanten Lehrern: Es wird besprochen, wann die Rechenprobleme erstmals aufgetreten sind, welche konkreten Probleme bestehen und wie bisher gefördert und behandelt wurde. Auch Zeugnisse und Hausaufgabenhefte geben einen guten Einblick in die Leistung des Kindes. Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung betont, dass die Informationen aus dem diagnostischen Gespräch (Anamnese) ein wichtiger Teil der Entscheidungsgrundlage für die Diagnosestellung sind.
  2. Intelligenztest*: Eine diagnostische Abklärung des Intelligenzniveaus ist bei Verdacht auf eine Rechenstörung obligatorisch um einen Eindruck über den kognitiven Entwicklungsstand des Kindes zu erhalten und bei Bedarf eine gutachterliche Stellungnahme zu ermöglichen. Die Bestimmung der Intelligenz ist differenzialdiagnostisch erforderlich um eine kognitive Beeinträchtigung, Lernbehinderung oder geistige Behinderung als Ursache der Rechenprobleme auszuschließen. Zu empfehlen sind Intelligenztests, die mehrdimensionale Verfahren sind, z. B. WISC-V (ehem. HAWIK). Der eingesetzte Test sollte insgesamt oder zumindest in Teilen sprachfrei sein. Sprachfrei bedeutet, dass die Testaufgaben keine Zahlen- oder Buchstaben beinhalten. Damit wird sichergestellt, dass die Intelligenztestleistung nicht durch die Rechen- oder Lesefähigkeiten des Kindes beeinträchtigt wird.
  1. Rechentest*: Kernstück einer Diagnostik ist der Rechentest. Dieser sollte die Vorläuferfertigkeiten/ Basiskompetenzen des Rechnens sowie die Rechenfähigkeiten des Kindes erfassen. Das heißt, dass Zahlen- und Mengenverständnis, die Zählfertigkeit, das arithmetische Faktenwissen sowie das Wissen um arithmetische Regeln und die Anwendung arithmetischer Operationen zu testen. Die Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung bzw. Dyskalkulie gibt Empfehlungen für die geeigneten Verfahren bei der Diagnostik der Rechenstörung.

Zur Diagnose einer Rechenstörung und zur Identifikation eines Risikos einer Rechenstörung sind die hier aufgeführten Verfahren geeignet.

BADYS 1-4+ (R) Bamberger Dyskalkuliediagnostik 1-4+ (R) (Merdian, Merdian, & Schardt, 2015)
BADYS 5-8+ Bamberger Dyskalkuliediagnostik 5-8+ (Merdian, Merdian, & Schardt, 2012)
BIRTE 2 Bielefelder Rechentest für das zweite Schuljahr (Schipper, Wartha, & Schroeders, 2011)
CODY-M 2-4 CODY-Mathetest: Mathematiktest für die 2.-4. Klasse (Kuhn, Schwenk, Raddatz, Dobel, & Holling, 2017)
DEMAT 1+ Deutscher Mathematiktest für erste Klassen (Krajewski, Küspert, & Schneider, 2002)
DEMAT 2+ Deutscher Mathematiktest für zweite Klassen (Krajewski, Liehm, & Schneider, 2004)
DEMAT 3+ Deutscher Mathematiktest für dritte Klassen (Roick, Gölitz, & Hasselhorn, 2004)
DEMAT 4 Deutscher Mathematiktest für vierte Klassen (Gölitz, Roick, & Hasselhorn, 2006)
DEMAT 5+ Deutscher Mathematiktest für fünfte Klassen (Götz, Lingel, & Schneider, 2013a)
DEMAT 6+ Deutscher Mathematiktest für sechste Klassen (Götz, Lingel, & Schneider, 2013b)
DIRG Diagnostisches Inventar zu Rechenfertigkeiten im Grundschulalter (Grube, Weberschock, Blum, & Hasselhorn, 2010)
ERT 1+ Eggenberger Rechentest 1+ (Schaupp, Holzer, & Lenart, 2003)
ERT 2+ Eggenberger Rechentest 2+ (Lenart, Holzer, & Schaupp, 2003)
ERT 3+ Eggenberger Rechentest 3+ (Holzer, Schaupp, & Lenart, 2010)
ERT 4+ Eggenberger Rechentest 4+ (Schaupp, Lenart, & Holzer, 2010)
HRT 1-4 Heidelberger Rechentest (Haffner, Baro, Parzer, & Resch, 2005)
KEKS Kompetenzerfassung in Kindergarten und Schule (May & Bennöhr, 2013)
MARKO-D1+ Mathematik- und Rechenkonzepte bei Kindern der erste Klassenstufe – Diagnose (Fritz, Ehlert, Ricken, & Balzer, 2017)
MBK 1+ Test mathematischer Basiskompetenzen ab Schuleintritt  (Ennemoser, Krajewski, & Sinner, 2017)

 

  1. Überprüfung, ob zusätzlich einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung vorliegt: Rechenstörung und einer Lese- und oder Rechtschreibstörung treten oftmals gemeinsam auf. Ergibt sich bei der Untersuchung der Verdacht auf eine Lese- und oder Rechtschreibstörung (z. B. diagnostisches Gespräch, Schulzeugnisse, bisherige Testleistungen), so wird auch eine LRS-Diagnostik durchgeführt. Hierzu wird vor allem ein Lesetest und ein Rechtschreibtest durchgeführt.
  1. Überprüfung, ob weitere Störungen vorliegen: Neben einer Lese- und oder Rechtschreibstörung können auch noch andere Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten mit einer Rechenstörung einhergehen. Hierzu zählen vor allem die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) mit oder ohne zusätzlicher Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Angststörungen (v. a. Schulangst), depressive Symptome, erhöhte Aggressivität oder Delinquenz. Ergibt sich der Verdacht auf eine weitere Störung, so werden zusätzliche Tests oder Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen verwendet.
  1. Ausschluss von bestimmten Umständen, Krankheiten oder Störungen: Es gilt die Seh- oder Hörfähigkeit zu überprüfen und weitere physische Erkrankungen (z.B. Hirnschädigung oder neurologischen Erkrankung) oder die Intelligenz als Ursache für die schwachen Rechenleistungen auszuschließen.

Durch die Diagnostik ist ein besseres Verständnis der Schulprobleme des Kindes möglich und den Eltern werden die, womöglich vorhandenen, Schuldgefühle genommen.

*Hinweis zu Tests: Sämtliche verwendete Tests (z. B. Rechentest, Intelligenztest) müssen standardisiert bzw. normiert sein. Eine Standardisierung liegt dann vor, wenn der Test einer großen Anzahl von Kindern im gleichen Alter oder der gleichen Jahrgangsstufe vorgegeben wurde und Vergleichswerte vorliegen. Grundbedingung für eine Diagnosestellung sind unterdurchschnittliche Leistungen im Rechnen.

Erklär-Video: Diagnose Dyskalkulie (BVL)

 

>> Woher kommt eine Rechenstörung?

>> Zurück zu Übersicht: Rechenstörung