Wie und wann wird eine Rechtschreibstörung festgestellt?

Die Diagnostik einer Rechtschreibstörung (RS) ist interdisziplinäre Aufgabe und schließt eine klinische, physische und testpsychologische Untersuchung mit ein. Sie sollte so früh wie möglich durchgeführt werden, ist aber auch im Erwachsenenalter möglich.

Der aktuelle Erkenntnisstand zur Diagnostik, Förderung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit RS ist in der S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung zusammengefasst. Die Leitlinie bietet eine Orientierungshilfe für alle Berufsgruppen, die an der Diagnostik und Förderung von Kindern mit RS beteiligt sind. Sie kann aber auch von den Betroffenen und ihren Angehörigen zur Information genutzt werden.

Mehr zur S3-Leitlinie

Die Stufe „S3“ bedeutet, dass die Leitlinie evidenz- und konsensbasiert ist: Die Empfehlungen werden anhand einer systematischen Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege (‚Evidenz‘) zu den relevanten Fragestellungen, sowie einer strukturierten Konsensfindung mit Vertretern möglichst aller relevanten Fachgesellschaften (aus Medizin, Pädagogik, Psychologie, Sprachwissenschaft, Therapie, etc.) erstellt. Damit soll sowohl die wissenschaftliche Legitimation als auch die klinische/praktische Umsetzung gewährleistet werden. Finanziert wurde die Leitlinie vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (BVL).

Die Leitlinie wurde für Berufsgruppen, die an der Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörungen beteiligt sind, konzipiert (Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, für Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie und Psychotherapie, für Psychosomatische Medizin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Psychotherapeuten, Lehrkräfte, Schulpsychologen, Sonderpädagogen, Heilpädagogen, Lerntherapeuten, Sprachtherapeuten, Logopäden und weitere).

Grundstein für die Diagnostik einer Rechtschreibstörung ist jedoch das Internationale Statistische Klassifikationsschema der Krankheit und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10), das in regelmäßigen Abständen überarbeitet und auf der Basis des aktuellen Wissenstandes aktualisiert wird. In den Arztbriefen, ärztlichen Attesten und Gutachten, die Eltern nach der Diagnostik bekommen bzw. der Schule vorgelegt werden, wird regelhaft auf das ICD-10 verwiesen und die Diagnosen gemäß den dort veröffentlichten Kriterien gestellt. Im ICD-10 finden sich konkrete Beschreibungen der Symptomatik, also der Probleme, die Grundlage für die Diagnosestellung sind. Außerdem finden sich dort Informationen zu den psychischen Belastungen und zum Verlauf der einzelnen Störungen. Die Krankenkassen erstatten die Kosten für die Diagnostik bei der RS nur dann, wenn die Diagnostik gemäß dem ICD-10 von einem Experten durchgeführt wurde. Hierzu zählen Psychologen und Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

Nachfolgend werden die einzelnen Bausteine der Diagnostik und empfehlenswerte diagnostische Verfahren aufgeführt.

Überprüfung der Seh- oder Hörfähigkeit zu überprüfen und weitere physische Erkrankungen (z.B. Hirnschädigung oder neurologischen Erkrankung) oder die Intelligenz als Ursache für die schwachen Lese- und Rechtschreibleistungen auszuschließen. Die Überprüfung der Kernsystematik umfasst die Diagnostik der lauttreuen und orthografischen Schreibfähigkeit.

Die klinische Untersuchung sollte den Entwicklungsverlauf, die Familien-und Schulsituation, die gesellschaftliche Eingliederung sowie die Auswirkungen der Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung des betroffenen Kindes oder des Jugendlichen thematisieren.

Die testpsychologische Untersuchung dient der Erfassung psychischer Eigenschaften, Merkmale und Zustände von Personen sowie der Einschätzung und Relativierung individueller Fähigkeiten und Leistungen in den unterschiedlichsten Bereichen. Durch die Anwendung psychometrischer Testverfahren werden Aussagen bezüglich individueller Eigenschaften oder Fähigkeiten durch einen Vergleichsmaßstab möglich.

Zudem soll bei der Diagnostik überprüft werden, ob eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS), eine expressive bzw. rezeptive Sprachstörung, Angststörung oder weitere psychiatrische Auffälligkeiten sowie eine Rechenstörung zusätzlich zu den Problemen im schriftsprachlichen Bereich vorliegen.
Durch die Diagnostik ist ein besseres Verständnis der Schulprobleme des Kindes möglich und den Eltern werden die, womöglich vorhandenen, Schuldgefühle genommen.

 

Diagnosekriterien

Grundbedingung für eine Diagnosestellung sind unterdurchschnittliche Leistungen im Schreiben (Abweichung 1 Standardabweichung von der Alters- oder Klassennorm). Nach Leitlinie kann das Alters-Diskrepanz-Kriterium, das Klassennorm-Diskrepanz- und das IQ-Diskrepanzkriterium verwendet werden.

Rechtschreibtests
Zur Überprüfung der Schreibleistung können folgende Verfahren angewendet werden:

DERET 1-2+ Deutscher Rechtschreibtest für das erste und zweite Schuljahr (Stock & Schneider, 2008a)
DERET 3-4+ Deutscher Rechtschreibtest für das dritte und vierte Schuljahr (Stock & Schneider, 2008b)
DERET 5-6+ Deutscher Rechtschreibtest für das fünfte und sechste Schuljahr (Mendez, Schneider, & Hasselhorn, 2015)
DRT 4 Diagnostischer Rechtschreibtest für 4. Klassen

(Grund, Leonhart, & Naumann, 2017)

DRT 5 Diagnostischer Rechtschreibtest für 5. Klassen

(Grund, Leonhart, & Naumann, 2017)

HSP 1-10 Hamburger Schreib-Probe 1-10 (May, 2012)
RST-ARR Rechtschreibtest – Neue Rechtschreibregelung (Ibrahimovic & Bulheller, 2013)
SLRT II Lese- und Rechtschreibtest (Moll & Landerl, 2010)
WÜRT 1-2 Würzburger Rechtschreibtest für 1. und 2. Klassen (Trolldenier, 2014)
WRT 1+ Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test für 1. und 2. Klassen  (Birkel, 2007a)
WRT 2+ Weingartener Grundwortschatz und Rechtschreibtest für 2. und 3. Klassen (Birkel, 2007b)
WRT 3+ Weingartener Grundwortschatz und Rechtschreibtest für 3. und 4. Klassen (Birkel, 2007c)
WRT 4+ Weingartener Grundwortschatz und Rechtschreibtest für 4. und 5. Klassen der Grund-und Hauptschule (Birkel, 2007d)

Nach der oben genannten S3-Leitlinie zur Diagnostik und Förderung bei der Rechtschreibstörung wird die Diagnosestellung einer RS empfohlen, sobald unterdurchschnittliche Rechtschreibleistungen (d.h. der Prozentrang unter 16) vorliegen.

Intelligenztests
Eine diagnostische Abklärung des Intelligenzniveaus ist bei Verdacht auf eine Rechtschreibstörung verpflichtend um einen Eindruck über den kognitiven Entwicklungsstand des Kindes zu erhalten und bei Bedarf eine gutachterliche Stellungnahme zu ermöglichen. Die Bestimmung der Intelligenz ist zudem differenzialdiagnostisch erforderlich um eine kognitive Beeinträchtigung, Lernbehinderung oder geistige Behinderung als Ursache schwacher schriftsprachlicher Fähigkeiten auszuschließen. Da der IQ von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörung bei verbalen Intelligenztestverfahren unterschätzt wird, sollte immer auf die Bestimmung eines non-verbalen IQs geachtet werden. Intelligenztests, die mehrdimensionale Verfahren sind, z. B. WISC-V (ehem. HAWIK) sind zu empfehlen.

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